
Deutlicher könnte der Prophet Jesaja die zum Himmel schreienden Gegensätze im Volke Israels nicht benennen: Während sich die einen in ihrer rein observanten
Pseudo-Frömmigkeit für ihre religiöse Fastenleistung selbst beweihräuchern, hungern gleichzeitig neben ihnen all diejenigen ausgegrenzten Brüder und Schwestern,
die ihr Leben in Leid, Not, Unfreiheit und bitterer Armut fristen müssen.
Auch bei uns, in den Wohlstands- und Wegwerfgesellschaften des Westens, feiern sich nicht wenige für ihren vorbildlich zur Schau getragenen frommen „Life-Style“
quasi selber ab, sei es für ihre vermeintlich rechte Bekenntnistreue, ihre linkspolitisch-woke Überlegenheitsattitüde oder ihr selbsternanntes höheres
Moralapostolat. Und solche Geister übersehen bei ihrer wenig demütigen und eitel getriebenen Selbstinszenierung in der Regel das Wesentliche, nämlich den ganz
konkreten, geschundenen und bedürftigen Nächsten, der schon direkt neben ihnen steht: „Sie suchen mich täglich und wollen gerne meine Wege wissen, als wären sie
ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte (…) Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe?“.
Der globale Welthungerindex, der jedes Jahr neu erscheint, vermeldet auch heute noch rund 700 Millionen Menschen, die unter bitterstem Hunger und Unterernährung
leiden müssen. Während manche bei uns, in den privilegierten Ländern der Nordhalbkugel, schon besonders stolz darauf sind, vorbildlich ihren Plastikmüll zu trennen,
ihre Biotonnen adäquat zu befüllen und auf Fleisch aus artgerechter und ökologischer Tierhaltung zu achten, sterben im Süden zeitgleich Tausende von Menschen am
bitteren Hungertod oder den Folgen von Unterernährung. Täglich sind es unfassbare 24.000 Menschen und 9 Millionen im Jahr!
Es ist zum Verzweifeln! Ja, auch ich habe hier keine befriedigende Antwort. Auch ich verdränge diesen Gedanken ganz oft, wenn ich wie selbstverständlich in den
Kühlschrank greife. Aber so viel ist sicher: Jeder von uns, der sich die Zahlen dieses weltweiten humanen Dauerskandals auch nur gelegentlich vor Augen hält, der
müsste eigentlich erst einmal in Schutt und Asche gehen, bevor er – in welchem alltäglichen Lebensbereich auch immer – mit dem moralisch überheblichen Zeigefinger
politisch oder ethisch auf wen oder was auch immer verweist.
Das Erntedankfest erinnert uns daran: Wir können zutiefst dankbar für all das sein, womit Gott uns so reich im Leben beschenkt hat und täglich erhält. Denn nichts
davon ist selbstverständlich. Und als unverdient Beschenkte sollten wir daher endlich auch das konsequente Teilen lernen und damit unseren geschundenen Nächsten
ein Licht in der Finsternis werden.
Pastor Christian Meißner